Maximilian Hendler (Graz):

Vom Rosenkranz zum Mambo. Zu den vermeintlich afrikanischen Wurzeln afroamerikanischer Musik

Der Libre Vermell der Klosterbibliothek Montserrat (E-MO Nr. 1) vom Ende des 14. Jahrhunderts ist ein Dokument für die Beziehungen zwischen der Musik der Karibik und der religiösen Brauchtumsmusik Spaniens. Er enthält Lieder mit geistlichen Texten, die nicht für den Gottesdienst, sondern für das Brauchtum im Umkreis der Kirche gedacht sind. Einer der anonymen Autoren beschreibt den Zweck der Sammlung:
 

"Da die Pilger manchmal, wenn sie in der Kirche der Jungfrau Maria von Montserrat Nachtwache halten, den Wunsch haben, zu singen und zu tanzen, und dies auch während des Tages auf dem Kirchplatz zu tun wünschen, und dort nur ehrenhafte und fromme Lieder gesungen werden dürfen, so wurden nun einige angemessene Gesänge vor und nach diesem Hinweis aufgeschrieben. Sie sollen in anständiger Weise und maßvoll verwendet werden, damit diejenigen nicht gestört werden, die ihre Gebete und frommen Betrachtungen fortsetzen, denen sich im übrigen alle während des Nachtgebets in frommer Haltung zu widmen haben."[1]

Die angesprochenen Tanzgesänge dienen heute noch im Süden Europas der Hebung des Kreislaufs nach ermüdenden Arbeiten, bei Nacht- und Totenwachen usw. Bei entsprechender Stimmung können "unangemessene Gesänge" auftreten. Das Zitat belegt die Versuche des Klerus, ein nicht eliminierbares Brauchtum sittlich zu reinigen.

Die religiöse Popularmusik des Libre Vermell war den iberischen Seefahrern, Sklavenhändlern und Conquistadores bekannt, die im 15. und 16. Jahrhundert die Macht ihrer Könige vergrößerten und den Katholizismus verbreiteten. Ein zentrales Datum in diesem Prozess ist die Taufe des Königs von Kongo im Jahr 1491.[2] Die Zeremonie wurde im Geist der Zeit als pompöse Selbstdarstellung des portugiesischen Reiches und der katholischen Kirche gefeiert. Geistliche und weltliche Musik war die wichtigste der beteiligten Künste. Damit beginnt die Rezeption europäischer Musik in Schwarzafrika, die seither nicht mehr abriss. Die Tatsache, dass "westliche" Musik in Afrika schon seit 500 Jahren bekannt ist, wurde noch nie in ihrer historischen Tragweite wahrgenommen.

Merkmal Responsorium
Wichtig für die Musik der Antillen ist das im Libre Vermell belegte Responsorium. Laut Afroamerikanistik "afrikanisches Erbe", findet es sich zwar von Tanger bis Kapstadt, und Varianten davon dürften allen Afrikanern bekannt gewesen sein, die als Sklaven nach Amerika kamen. Seine Bedeutung im Gospel und in den synkretistischen Kulten Lateinamerikas ist jedoch europäisch-christliches Erbe. Responsorien und Wechselgesänge gehören zum altschichtigen Musikerbe aller Mittelmeerländer und zur Basis des christlichen Kultgesanges. Beispiele bieten alle orientalischen Kirchen wie auch Orthodoxie und Katholizismus. Schon Plinius d. J. berichtet im zweiten Jahrhundert .n. Chr., dass die Christen ihren Gott mit Gebeten und Wechselgesängen verehren. Als Litaneien, Rosenkränze usw. bilden sie standardisierte Gebetsformen. In ihrem zweiten bedeutenden und global dokumentierbaren Anwendungsbereich, den Arbeitsliedern, dienen die Responsorien dazu, den Krafteinsatz mehrerer Menschen rhythmisch zu bündeln. ("Cuncti simus" / EMI H.M.V. 1C 065-45 641 B/1)

Zum rezenten Stand des vom Libre Vermell belegten Brauchtums: In Candelaria auf Teneriffa befindet sich eine Marienstatue, die der Legende (einem uralten Mythenmotiv) nach vom Meer angeschwemmt wurde. Am 15. August, zu Mariae Himmelfahrt, wird sie auf dem Kirchplatz ausgestellt. Der Sockel, auf dem sie sich dabei befindet, hat die Form einer Stufenpyramide, die mit Blumen und Devotionalien geschmückt ist. Von allen Inseln kommen Gläubige mit Musik- und Tanzgruppen, die vom Morgen bis in den mittleren Nachmittag ihre Verehrung darbringen, indem sie die Statue mit Tanzgesängen umkreisen. Trotz der Anwesenheit vieler Touristen macht das Fest nicht den Eindruck einer vom Tourismus motivierten Veranstaltung. Bemerkenswert auch, dass es im Fernsehen in voller Dauer direkt übertragen wird. Ein Marienlied von Fuerteventura vermittelt einen Eindruck marianischer Tanzgesänge, wie sie in Candelaria zu Mariae Himmelfahrt vorgetragen werden. ("Corrido" / CCPC CD 198 Nr. 40)

Der Heiligenkult ist eine Konzession an die Volksfrömmigkeit, eine Verchristlichung des spätantiken Heroenkultes. Der Protestantismus lehnt ihn als nichtevangelisch ab, weshalb er in der von der Jazzforschung dominierten Afroamerikanistik zu wenig Beachtung findet, da diese ihre Schwerpunkte in protestantischen Ländern hat. Am populärsten in der westlichen Romania ist der hl. Antonius. In der religiösen Popularmusik gibt es eine beträchtliche Zahl von Liedtexten, die sich an ihn wenden. ("Sant Antoni" / Blau CD OF 074 Nr. 6)

Der katholische Heiligenkult übte eine starke Anziehungskraft auf die schwarze Bevölkerung in Iberoamerika aus. Wer den Festtag eines Heiligen im tieferen Süden Europas miterlebt hat, kann sich ausmalen, wie solche Ereignisse im 16. bis 17.Jahrhundert auf Afroamerikaner gewirkt haben müssen. San Antonio hielt auch in Lateinamerika Einzug und mit ihm die "religiöse Popularmusik" nach Art des Libre Vermell. ("Arullo San Antonio"/Explorer H-72036 A/1)

Merkmal Trommeln
Ein Wort zum Thema Trommeln: In der Afroamerikanistik herrscht bis in ihre Spitzen die Tendenz, Trommelmusik von schwarzen Musikern unreflektiert als Teil der "african roots" zu betrachten. Gesänge mit Trommelbegleitung spielen jedoch auch in den älteren Schichten der iberischen Musik eine bedeutende Rolle, u.a in der religiösen Popularmusik. ("Romance de la huida a Egipto"/CCPC-CD-364 Nr. 8)

Die wesentlichen Elemente der "african roots" (trommelbegleitete Kurzphrasenresponsorien, Mikrovarianz, diaphoner Chor) lassen sich schon in Iberien belegen. Was bleibt an dieser Musik von "Afrika" übrig? Antwort: Die Melaningene der Musiker! Damit sind wir jedoch bei der Rassenkunde, nicht bei der Musikwissenschaft. ("A adorar a Antonio"/Explorer H-72036 B/1)

In den synkretistischen Kulten wie Macumba, Winti-pre, Santeria, Voodoo usw. mischen sich christliche und schwarzafrikanische Glaubenselemente. Die Rituale wirken auf anglophone Beobachter so exotisch, dass sie sich kaum andere Wurzeln denken können als Afrika. Hier hilft ein Blick nach Spanien. Die oben beschriebene Regie des Marienfestes auf Teneriffa mit tropischem Temperament kombiniert ist die zeremonielle Substanz dieser Kulte. Die über ihre Bedeutung hervorgehobenen Afrikanismen sind Resultate nativistischer Bestrebungen, die in manchen Regionen eine größere, in anderen eine geringere Rolle spielen. ("Abakwa song"/Folkways FE 4410 A/4)

Durch die Jahrzehnte lange Dauer des kommunistischen Regimes auf Kuba wird übersehen, dass die Musik nach Art der Santeria auch in katholischem Kleid auftritt, wie sie die Exilkubaner in Florida pflegen. Es sind Produkte im Gefolge der Liturgiereform durch das Zweite Vatikanische Konzil im Jahr 1962, die von den Katholiken außerhalb Europas als Aufruf zu kulturellem Nativismus im Sakralraum aufgefasst wurde. ("Ave Maria Morena"/Rounder CD 1088 Nr. 17)

Trommeln sind für Weiße das afrikanische Instrument schlechthin. In Amerika sind afrikanische Trommeltechniken hauptsächlich in Ritualkomplexen erhalten. Bezogen auf die Gesamtheit der afroamerikanischen Musik handelt es sich dabei jedoch um Marginalien. Produkte des Rezeptionsprozesses, in dem sich schwarze Populationen Lateinamerikas europäische Musik aneigneten und ihrem Geschmack anverwandelten, überwiegen. In der afrikanischen Musik finden sich diese Formen nur unter rezentem lateinamerikanischem Einfluss. ("Mon peuple est content"/CDM LDX A 4250 B/7)

Zum Son des 20. Jahrhunderts führte die immer stärkere Aufnahme volkstümlicher Elemente in die komponierte Tanzmusik. Die typische rhythmische Formel des Son [Fz 16: I . . I . . I . . . I . I . . .], ist in Afrika zwar belegt, jedoch nur in Gattungen, die auch andere Reflexe der lateinamerikanischen Tanzmusik zeigen. Ein Dokument aus Musikschichten, die frei von derartigen Einflüssen sind, liegt bislang nicht vor. Nach derzeitigem Kenntnisstand ist sie das Produkt von Entwicklungen auf den Antillen. Das zweite prägende Element des Son ist der MONTUNO. Dabei handelt es sich um kurze melodische Phrasen, die sowohl die Oberfläche des Musikgeschehens tragen, als auch anderen Melodien als Begleitung unterlegt werden können. Historisch-genetisch ein Kurzphrasen-Responsorium, hört es auf, ein solches zu sein, wenn es von einer einzigen Stimme vorgetragen wird. ("Papa Montero"/Rounder CD 1078 Nr. 10)

Anmerkungen
1) Zit. nach dem anonymen Kommentar der LP EMI His Masters Voice 1C 065-45 641.

2) Siehe Arnulf Neuwirth: Portugiesische Seefahrer. Kleine Bücherei der Weltliteratur. Wien: Amandus-Edition 1947, S. 111ff., und John Iliffe: Geschichte Afrikas. Aus dem Englischen von G. Gockel und R. Seuß. München: 2000, S. 175.

[Die Klangbeispiele zu dem vorliegenden Beitrag können aus rechtlichen Gründen z.Zt. nicht ins Netz gestellt werden. Bei Interesse bitten wir, Kontakt mit den Herausgebern aufzunehmen. Die Hg.]

Diskographie
EMI His Masters Voice 1C 065-45 641: Reflexe. Stationen europäischer Musik. Libre Vermell de Montserrat. Hesperion XX. Vokalensembles. Instrumentalensembles. Gesamtleitung: Jordi Savall. Aufnahmen 1978: W. Meister. Köln 1979.

CCPC CD 198: Centro de la cultura popular canaria. El folklore de Fuerteventura. Aufnahmen 1984-1992: A. Miranda, O. Cardoso. Kommentar: M. Gonzales Ortega. La Laguna 1992.

Blau CD OF 074: Folklore de Mallorca. Palma de Mallorca 1992.

Nonesuch Explorer Series H-72036: Explorer Series. Nonesuch. In praise of Oxala and other gods. Black music of South America. Aufnahmen o.J.: D. Lewiston. Kommentar: G. Abadia, D. Lewiston. New York o.J.

CCPC-CD-364: Centro de la cultura popular canaria. Coros i danzas de Hermigua y Arulo. Canta la Gomera. Aufnahmen o.J.: P. Chinea, M. de Paz.La Laguna 1998.

Ethnic Folkways Library FE 4410: Cult music of Cuba. Aufnahmen o.J. und Kommentar: H. Courlander. New York 1949.
Rounder records CD 1088: Afro-Cuba. A musical anthology. Zusammenstellung und Kommentar: M. Marks. Cambridge Mass. 1994.

CDM-Le chant du monde LDX A 4250: Le carnaval de Santiago de Cuba. Kommentar: A. Carpentier. o.O. o.J.

Rounder records CD 1078: Cuban Counterpoint: History of the Son Montuno. Zusammenstellung und Kommentar: M. Marks. Cambridge Mass. 1992.
 

Prof. Dr. Maximilian Hendler
Rückertgasse 11
A-8010 Graz